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MMM-Club

August 2020
Christoph Werner im Interview
VON Simone Krah und Herbert Arthen
Bundeskanzlerin Angela Merkel ist EU-Ratspräsidentin. Sie soll vieles richten in den wenigen Monaten ihrer Amtszeit. Christoph Werner ist auch in führender Position an einem europäischen Projekt beteiligt. Er hat im Familienunternehmen mehr Zeit und weniger Druck als die Kanzlerin: In 13 Ländern Europas haben mittlerweile dm-Märkte ihre Pforten geöffnet, weitere sollen folgen. Knapp 70 Jahre nach Gründung der Montanunion, an die jedes Jahr am Europa-Tag am 9. Mai erinnert wird, formuliert der Vorsitzende der dm-Geschäftsführung seine Gedanken zu Europa.
SIMONE KRAH: Herr Werner, vor Kurzem hat Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Was bedeutet Europa für Sie persönlich und aus der Perspektive von dm?
CHRISTOPH WERNER: Wenn wir zurückschauen, was seit dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, dann war Europa bisher eine echte Erfolgsstory. Ein großes Projekt, um nach Jahrhunderten mit vielen blutigen Kriegen zu versuchen, den Menschen überall auf dem Kontinent Frieden und Bürgerrechte zu ermöglichen. Als Einzelhändler haben wir durch dieses konstruktive Miteinander in der Europäischen Union die Möglichkeit, für Menschen in anderen Ländern Europas ebenfalls tätig zu werden.
HERBERT ARTHEN: Handel, so sagen Sie, ist eine Kulturveranstaltung. Wie drückt sich das konkret aus?
CHRISTOPH WERNER: Zunächst einmal so: Indem die Kolleginnen und Kollegen, die bei dm in den 13 verbundenen Ländern tätig sind, im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der Kundenerwartungen sich einbringen können. Zugleich aber immer auch mit den Werten, der Expertise sowie den Prozessen und Strukturen von dm-drogerie markt als Wirtschaftsgemeinschaft.
HERBERT ARTHEN: Gibt es in Ungarn oder Serbien andere Gegebenheiten, andere Erfordernisse? Auch für die dortigen Mitarbeiter?
CHRISTOPH WERNER: Kürzlich habe ich in Serbien und in Bosnien-Herzegowina dm-Märkte besucht. Die Infrastruktur ist in diesen Ländern teilweise deutlich unterschiedlich. Shoppingmalls haben beispielsweise eine umfassendere Bedeutung als bei uns. Viele Menschen schätzen sie wegen ihrer vergleichsweise hohen Aufenthaltsqualität. Deshalb richten wir unsere dm-Märkte an den jeweiligen Gegebenheiten aus.
SIMONE KRAH: Kommt Ihre spezifische Unternehmenskultur dort dennoch zur Entfaltung?
CHRISTOPH WERNER: Wir wollen keine Kulturarbeit leisten im Sinne eines Kulturimperialismus. Sondern es geht darum, unsere Haltung und unsere Grundsätze zur Entfaltung zu bringen. Unsere Kolleginnen und Kollegen vor Ort schauen dann, wie dies situationsgerecht möglich ist. Unser Selbstverständnis hat sich zunächst im deutschen Kultur-raum mit den Menschen hierzulande entwickelt. Andere landesspezifische Kulturen können sich unterscheiden. Dem kann man gut begegnen, indem man Anweisungen unterlässt und versucht, das Grundsätzliche unserer „Dialogischen Kultur“ wirksam werden zu lassen. Gute Grundsätze sollten so allgemein sein, dass sie sich im jeweiligen Kontext konkretisieren lassen.
SIMONE KRAH: Das heißt, diese Grundsätze werden immer wieder auf eine Bewährungsprobe gestellt?
CHRISTOPH WERNER: Ja, permanent. Auch hier in Deutschland. Unsere Unternehmensphilosophie ist Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre ausgearbeitet worden. Sie ist der Polarstern, an dem wir uns orientieren, um immer wieder zeitgemäße Antworten finden zu können.
HERBERT ARTHEN: Man kann als Handelsunternehmen Kultur am Standort mitgestalten. Ist das auch eine Aufgabe, die dm wahrnimmt?
CHRISTOPH WERNER: Ja, ein konkretes Beispiel ist die Aus- und Weiterbildung. Wir haben auch bei dm in Deutschland das Konzept der Dualen Ausbildung entwickelt, mit Berufsschule und Lernen in der Arbeit. In Deutschland erscheint uns das so selbstverständlich. In vielen anderen Ländern ist es das ganz und gar nicht. Deshalb bemühen wir uns, auch dort das Erfolgsmodell der Dualen Ausbildung einzubringen. Wenn es angenommen wird, dann können wir so auch einen Kulturimpuls geben.
SIMONE KRAH: Das heißt, Sie haben schon fast einen Bildungsauftrag?
CHRISTOPH WERNER: Keinen direkten Auftrag, sondern es ist meines Erachtens unsere Aufgabe als Wirtschaftsunternehmen dazu beizutragen, dass es den Menschen besser geht. Und Bildung fördert Wohlstand.
SIMONE KRAH: Sie haben Ihren positiven Blick auf Europa geschildert. Erleben Sie auch Vorurteile gegenüber Europa?
CHRISTOPH WERNER: Zu Europa gibt es sicherlich unterschiedliche Ansichten. Zunächst einmal ist die Idee Europas für viele Länder eine positive Perspektive hinsichtlich einer freiheitlichen Gesellschaftsform gewesen. Auch, um sich als Staat oder als Nation finden und ausleben zu können. So zum Beispiel die Länder, die aus dem ehemaligen Jugoslawien hervorgegangen sind. Heute gibt es aber in den einzelnen Ländern der Europäischen Union unterschiedliche Vorstellungen davon, was jetzt Nationalstaat bedeutet und was jetzt Union bedeutet. Das hängt wieder sehr mit der jeweiligen Geschichte zusammen. In Deutschland ist zu beobachten, dass wir oft nationale Interessen eher zurücknehmen wollen und auf das Europäische, auf das Große setzen. In anderen Ländern Europas wird es eher andersherum gesehen. Dort soll sich das Nationale entfalten können, weil dort die Idee der Nation lange unterdrückt wurde. Deswegen kommt es manchmal auch zu sehr unterschiedlichen Sichtweisen und auch zur Polarisierung in der Berichterstattung und öffentlichen Diskussion.
SIMONE KRAH: Haben Ihre Auslandsstationen geholfen, andere Länder besser zu verstehen und auch einen anderen Blick auf Europa zu entwickeln?
CHRISTOPH WERNER: Das hoffe ich doch! Ich habe zunächst mehrere Jahre in Frankreich und dann acht Jahre in den USA gelebt. Das eröffnet weitere Blickwinkel.
Die USA sind eine Nation von Immigranten, die nach Amerika kamen, um sich verwirklichen zu können. Denn dies war in deren Herkunftsländern so in der Regel nicht möglich. Das Resultat ist die Haltung, dass Amerikaner tendenziell immer „für etwas“ sind und nicht „gegen etwas“. Deswegen wird immer optimistisch in die Zukunft geschaut. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren das verheißene Land. Aus diesem Grund ist das Verbrennen der Stars-and-Stripes dort ein echtes Sakrileg.
In Europa ist das tendenziell anders. In Deutschland sind wir beispielsweise historisch belastet durch die Katastrophe des Nationalsozialismus und des entfachten Weltkrieges, durch den Vernichtungsfeldzug gegen Osteuropa und den Holocaust. Das wiegt auch heute noch schwer in unserem Selbstverständis. Andere Länder Europas waren viele Jahrzehnte weltpolitisch tonangebend, vor allem während des Kolonialismus. Deren „glorreiche“ Zeiten sind vorbei. Deshalb tut man sich manchmal mit der Zukunftsfähigkeit schwer.

SIMONE KRAH: Betonen wir auch deshalb in Europa öfter das Trennende als das Verbindende?
CHRISTOPH WERNER: Die Entstehungsgeschichte der Europäischen Union war zunächst einmal eine Friedenssicherung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit – mit der Montanunion 1950 und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957. Erst 1992 kam mit der Europäische Union der Gedanke einer politischen und gesellschaftlichen Union. Für die jungen Generationen, die Generationen X, Y und Z, die vom Krieg zeitlich immer weiter entfernt aufwuchsen, ist Frieden und auch der gemeinsame Wirtschaftsraum ohne Zollschranken selbstverständlich. Die jungen Deutschen können sich heute ein Europa mit Krieg und Diktatoren gar nicht mehr vorstellen. Die Europäische Union, als Friedensprojekt und mit dem Ziel der offenen Grenzen zu sehen, ist für viele Menschen heute nicht mehr inspirierend, weil erreicht und scheinbar selbstverständlich sind.
SIMONE KRAH: Ist Corona deshalb auch eine Chance, zu sehen, was wir an Europa haben? Die Grenzen wurden ja leider nach und nach dichtgemacht.
CHRISTOPH WERNER: Was die COVID-19-Krise anbelangt, hatten und haben wir die Herausforderung der Pandemiebekämpfungs- beziehungsweise -bewältigungsstrategien. Die Bewegungsfreiheit einzuschränken, war eine Strategie, allerdings auf der Basis pandemietheoretischer Gesichtspunkte. Die Schlagbäume an den nationalen Grenzen runtergehen zu lassen, war naheliegend – das gab es bei uns sogar zwischen Bundesländern und Landkreisen. Ich meine, wir dürfen deshalb nicht zu hart mit den Politikern ins Gericht gehen.
HERBERT ARTHEN: Sie sagen in anderen Zusammenhängen, man achte zu oft auf das, was nicht gut läuft, statt zu sehen, was gut läuft. Gilt das auch für eine Europäische Union?
CHRISTOPH WERNER: Unseren Blickwinkel können wir auf jeden Fall wählen. Die Frage ist doch: Was soll denn die konstituierende Idee für die Europäische Union sein? Ich erlebe, dass es in der aktuellen Diskussion viel zu sehr um die Abgrenzung Europas gegenüber den beiden Supermächten, also den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China, geht. Es ist in Ordnung, wenn wir uns hier in Europa zusammenschließen, um den Chinesen oder den Amerikanern gegenüber Stärke und Geschlossenheit zu zeigen. Aber das ist zu wenig. Und wir sehen am Brexit, dass die Integrationskraft der europäischen Idee nicht stark genug ist und das Solidargefühl fehlt. Dadurch können Politiker, die sehr populistisch argumentieren und agitieren, die Idee eines starken Europas diskreditieren.
SIMONE KRAH: Kann das auch daran liegen, dass die Europäische Union die Menschen beziehungsweise die Bürger etwas aus den Augen verloren hat?
CHRISTOPH WERNER: Ich glaube, wir haben genau das gleiche Phänomen, das wir auch schon auf Bundesebene sehen. Wir leben verfassungsgemäß in Deutschland das Subsidiaritätsprinzip mit den vier Ebenen. Zunächst die kommunale Ebene, dann die Kreisverwaltungen, wir haben die Landesebene und den Bund. Und es lässt sich beobachten, dass Politik am besten auf der lokalen Ebene funktioniert. Das liegt an der Überschaubarkeit. Zudem spielen die Parteien dort nicht die große Rolle, sondern Sachfragen stehen im Vordergrund. Auf Landesebene ist das schon weniger gegeben und auf Bundesebene kaum noch wahrnehmbar, weil die Entfernung zu den Bürgern wächst. Auf europäischer Ebene ist die Entfernung zwischen der Administration und den betroffenen Bürgern dann ganz extrem.
SIMONE KRAH: Die Kommissionsmitglieder werden ja nicht vom Volk gewählt.
CHRISTOPH WERNER: Selbst wenn es so wäre – es gibt kein europäisches Volk. Wir brauchen deshalb eine andere Form der Legitimierung einer europäischen Führung, als für Repräsentanten, die in den einzelnen Mitgliedstaaten Entscheidungen treffen. Das kann nicht gedacht werden in der Verlängerung dessen, was wir von der lokalen Ebene kennen. Aus Ideenlosigkeit wird im Moment daher das Argument der Gegenmacht als Surrogat verwendet. Europa müsse einig und stark sein, um nicht zerrieben zu werden zwischen den Supermächten Vereinigte Staaten von Amerika und Volksrepublik China.
Es braucht jedoch eine andere Idee und die gibt es meines Erachtens bereits. Diese ist die Idee der freien Bürgergesellschaft. Wir müssen in Europa Rahmenbedingungen schaffen, bei denen das Individuum zum eigenen Wohl und zum Wohle der Gemeinschaft tätig werden kann. Zur Erreichung dieses Ziels benötigen wir Rahmenbedingungen, bei denen wir Rechtssicherheit mit eindeutigen Grundsätzen haben. Es muss also sehr klar sein, was wo und warum entschieden wird. Immer unter dem Gesichtspunkt, dem einzelnen Bürger die Möglichkeit zu geben, sein Leben intrinsisch motiviert positiv gestalten zu können.
HERBERT ARTHEN: Bei wirtschaftlicher Unsicherheit wird die Idee einer freien Bürgergesellschaft schwierig. Was kann dm mit Märkten in 13 Ländern tun?
CHRISTOPH WERNER: Bei dm-drogerie markt gilt: Alles, was wir tun, hat immer das Wohl des Menschen zum Ziel. Das sollte auch das Anliegen der Europäischen Union oder der europäischen Wertegemeinschaft sein. Wir müssen Rahmenbedingungen schaffen, damit Kolleginnen und Kollegen trotz unterschiedlicher kultureller Hintergründe eine Wertegemeinschaft bilden. Die gleiche Aufgabe haben politisch Verantwortliche.
HERBERT ARTHEN: Gibt’s da Strukturen, Prozesse, die man auch an Politiker weitergeben kann?
CHRISTOPH WERNER: Da denke ich an zwei Dinge. Erstens, dass wir darauf setzen können, dass das Gute im Menschen schon zum Vorschein kommt, wenn die Rahmenbedingungen so sind, dass es sich auch regen und äußern kann. Gerade gegenüber Politikern sind viele Menschen leider oft sehr misstrauisch. Und Zweitens müssen wir uns immer wieder die Frage stellen, was zentral geregelt werden muss und was besser lokal, also dezentral, entschieden werden kann. Es gibt allerdings auch einen großen Unterschied zwischen Wirtschaftsunternehmen und Staaten. Staaten und auch die EU können die Höhe ihrer Einnahmen durch Steuergesetze bestimmen. Wirtschaftsunternehmen können das nicht, sie sind permanent auf die Gunst der Kunden angewiesen und daher strukturell leistungsgetrieben und effizient.
SIMONE KRAH: Sind Sie optimistisch, dass die Wirtschaft schnell wieder in Schwung kommt?
CHRISTOPH WERNER: Na ja, es kommt auf das Verhalten der Bürger und auf die noch erforderlichen Einschränkungen an. Wenn diese vorbei sind und wenn es nicht zu neuen Infektionsschüben kommt, dann könnte die Konjunktur wieder Fahrt aufnehmen. Mit einem rasanten Aufschwung rechne ich aber nicht, nicht in Deutschland und nicht in Europa. Einige Volkswirtschaften werden große Probleme haben, da viele der Konjunkturprogramme nicht wirklich greifen.
HERBERT ARTHEN: Ist es also richtig, wenn finanzstarke Länder schwache Länder unterstützen?
CHRISTOPH WERNER: Ich finde es schon richtig, wenn versucht wird, angeschlagene Volkswirtschaften zu unterstützten. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich der Länderfinanzausgleich bewährt, weil es unterschiedliche Wirtschaftsleistungen gibt, nicht nur aufgrund der Tüchtigkeit der Menschen, sondern auch aufgrund der geografischen Gegebenheiten. Im Großen und Ganzen haben wir mit dem Finanzausgleich unseren Frieden geschlossen, eben weil das Sinn macht. Diesen Ausgleich brauchen wir in Europa auch, vor allem unter den Bedingungen einer Währungsunion. Das Problem ist auf europäischer Ebene, dass die Gesetzgebung, in Bezug auf das Haushalts- und Budgetrecht, auf nationaler Ebene angesiedelt ist.

HERBERT ARTHEN: Bei Transferleistungen in Europa herrscht mangelndes Vertrauen…
CHRISTOPH WERNER: Die Kritik an hohen Transferleistungen ist nicht unberechtigt, denn einige Regierungen sind nicht sehr bemüht, alles steuerlich zu erfassen, was im eigenen Land geschieht. Aber wie in Deutschland haben auch in Europa unterschiedliche Regionen unterschiedliche Voraussetzungen. Es gilt zu überlegen, wie eine Unterstützung im Sinne eines Länderfinanzausgleichs funktionieren kann, damit auf dieser Basis der nötige wirtschaftliche Austausch stattfinden kann. Die richtige Form muss diskutiert und dann gefunden werden.
SIMONE KRAH: Ein Unternehmen wie dm denkt ja in sehr langen Linien. Sehen Sie die Gefahr, dass das Thema Nachhaltigkeit jetzt dauerhaft weniger in den Fokus gerückt
wird?
CHRISTOPH WERNER: Im Hinblick auf Europa und den Green Deal müsste die eigentliche Frage sein: Was macht uns zukunftsfähig? Und gerade die Umweltdiskussion ist oft extrem konservativ, weil nichts verändert werden soll – man will sogar das Rad zurückdrehen. Aber das kann nicht die Perspektive für unsere Zivilisation sein. Stattdessen müssen wir uns fragen, in welcher Welt wir leben wollen. Und welche Maßnahmen wir heute ergreifen müssen, damit wir diese Zukunft auch erleben können.
Wenn wir uns die Fridays-for-Future-Bewegung anschauen, habe ich wenig von einem echten Zukunftsentwurf für unsere Zivilisation erleben können, sondern immer wieder den singulären Gesichtspunkt, die Natur bewahren zu wollen. Wenn wir aber den Standpunkt einnehmen, dass Zivilisation ein Ziel ist, dann werden wir die Erde immer verändern, weil wir auf ihr leben. Wir können sie nicht konservieren, sondern wir müssen massiv in Technologien investieren, die unsere natürlichen Lebensgrundlagen pflegen und verbessern.
Dazu braucht es jetzt politische Rahmensetzungen. Nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Grenzen von Europa. Weil es nichts bringt, wenn wir uns Standards auferlegen, die in anderen Ländern nicht eingehalten werden, und es so zu Wettbewerbsverzerrungen kommt.
HERBERT ARTHEN: Sehen Sie auch Handlungsbedarf bei sozialen Standards?
CHRISTOPH WERNER: Ja. Ein Beispiel: Das Konstrukt der Werkverträge ist geschaffen worden, bevor es die Möglichkeit gab, dass Menschen aus Osteuropa hier in Deutschland so arbeiten können, wie sie dies heute tun. Das Problem ist, dass Gesetze mit einer Unendlichkeitsperspektive erlassen werden. Wenn der Gesetzgeber sich nicht aktiv die Gesetze erneut vorknöpft, dann entfernen wir uns von der Realität, die sie helfen sollen zum Wohle aller zu gestalten. Deswegen plädiere ich dafür, dass wir Gesetze mit einem Verfallsdatum versehen, damit eine bewusste Entscheidung stattfindet, ob wir sie auslaufen lassen und erneuern wollen.
HERBERT ARTHEN: Gesetzesänderungen brauchen in einer Demokratie viele Jahre. Fehlt deshalb die Zukunftsfähigkeit einer Staatengemeinschaft von 27 Nationen?
CHRISTOPH WERNER: Wenn es um politische Gebilde geht, dann muss die Zielsetzung eine andere sein als in einem Unternehmen. Ein politisches Gebilde ist nicht im Wettbewerb, sondern es geht um die Vereinbarungen, wie wir unser Zusammenleben gestalten wollen. Wir brauchen also konsensfähige Leitideen, damit sich Europa eint. Das ist nicht einfach. Wenn wir den Green Deal nehmen, ist das Projekt aus deutscher Perspektive sehr eingängig. In vielen anderen Ländern, in denen ein anderes Verhältnis zum Umweltschutz gelebt wird, kann der Green Deal durchaus als zentralistische Übergriffigkeit erlebt werden.
Deswegen betone ich noch einmal, dass es auf europäischer Ebene um die Entfaltung des Individuums in einer freien Bürgergesellschaft gehen muss. Wirkliche Gemeinschaft bildet sich in Werten, die man gemeinsam anstrebt und zu Normen erklärt. Dieses Streben brauchen wir in Europa. Wir haben doch beste Voraussetzungen, da die ganze Epoche der Aufklärung in Europa stattgefunden hat. Wir müssen über Gemeinwohl als europäisches Ziel sprechen, ein Ziel, das uns eint und nicht entzweit.
SIMONE KRAH: Dialog ist wichtig. Meine Abschlussfrage zielt in diese Richtung. Was verbinden Sie mit dem MMM-Club und warum ist es überhaupt sinnvoll, dass es einen solchen Club gibt?
CHRISTOPH WERNER: Es ist sehr wertvoll, dass es den MMM-Club gibt. Wenn man sich kennt, kommt man besser ins Gespräch. Das ist eine Herausforderung für viele andere Kongresse, bei denen eine bunt gewürfelte Truppe zusammenkommt. Das kann auch anregend sein, aber mit der Kontinuität ist es schwierig. Auch weil es keine Verbindlichkeit gibt. Dieses Miteinander hat MMM über die Jahre aufgebaut und es immer wieder geschafft, dass in der Wirtschaft Tätige und in der Gesellschaft Tätige zusammenkommen wollen, um sich darüber auszutauschen, wie Dinge zeitgemäß und zukunftsfähig veranlagt werden können. Bei anderen Kongressen, die ich besuche, habe ich das bisher noch nicht wahrnehmen können. Ich glaube, das macht MMM zu etwas Besonderem. Und zu etwas, zu dem es sich lohnt, hinzugehen und Lebenszeit zu investieren.
SIMONE KRAH: Lieber Herr Werner, es war uns eine große Freude, dass Sie sich die Zeit genommen haben. Sie sind ein leidenschaftlicher Europäer. Eine wichtige Botschaft, die ich mitgenommen habe, ist: Wir sollten uns immer darum kümmern, wofür wir sind und nicht wogegen wir sind. Ich danke Ihnen herzlich.
CHRISTOPH WERNER: Vielen Dank!