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MMM-Club

Oktober 2021

Dr. Christoph Quarch im Interview

VON Simone Krah

Der Philosoph Dr. Christoph Quarch
begleitete die diesjährige Studienreise nach Athen und referierte zu den Themen
„Griechenland – Wiege der Demokratie“ und „Die Kunst der Freiheit“. Dabei ­wurde deutlich, dass wir von den alten Griechen viel mit Blick auf aktuelle Herausforderungen lernen können – etwa bei der ­Fragestellung, wie der Zusammenhalt der ­Gesellschaft gestärkt werden oder wie die Zukunft Europas aussehen kann. Im Austausch mit MMM-Präsidentin Simone Krah erläuterte Quarch, was echten Bürgersinn auszeichnet und welche Rolle Begeisterung für wirtschaftlichen Erfolg spielt.

SIMONE KRAH: Lieber Herr Quarch, in Ihren Beiträgen kam deutlich zum Ausdruck, dass die Athener die Idee der Demokratie sehr ernst genommen haben. So betonte Perikles: „Bei uns heißt einer, der sich nicht am Gemeinwesen beteiligt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein schlechter.“ Wie schaffen wir es, dass sich auch bei uns wieder mehr Bürger für die Gesellschaft engagieren?

CHRISTOPH QUARCH: Das Geheimnis der attischen Demokratie lässt sich auf eine einfache Formel bringen: Transparenz und Partizipation. Möglichst alle Bürger sollten Zugang zum Raum des Politischen haben und sowohl an den Meinungsbildungsprozessen als auch an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. So entstanden ein starker Gemeinsinn und ein hohes Maß an Identifikation mit dem Gemeinwesen, der Polis. Politik war folglich nicht die Angelegenheit einer Elite oder von Experten, sondern jedermann zugänglich. Der „Staat“ war nicht eine abstrakte Institution im Gegenüber zu den Bürgern, sondern die Bürger waren der Staat. Ich denke, genau das ist es, was moderne Demokratien von den Athenern lernen können. 

SIMONE KRAH: Ihnen liegt die Zukunft Europas besonders am Herzen. Das europäische Projekt ist jedoch ins Stocken geraten. Europaskepsis breitet sich aus. Was muss geschehen, um die Menschen wieder für die europäische Idee zu begeistern?

CHRISTOPH QUARCH: Es ist bekannt, dass es im klassischen Hellas keine imperialen Strukturen gab. Eine Vielzahl von Stadtstaaten interagierte – mal friedlich, mal kriegerisch. Bei alledem aber wusste man sich einer übergeordneten Gemeinschaft zugehörig, die durch eine gemeinsame Kultur definiert war; mehr noch: Durch einen gemeinsamen Geist, der bei den großen panhellenischen Spielen in Olympia, Delphi, Nemea und Isthmia gefeiert und vom gemeinsamen Zentralheiligtum in Delphi propagiert wurde. Wenn man diesen Geist zu einem Wort verdichten will, dann war es ein Geist der Harmonie: Die Idee, wonach das Leben am besten florieren kann, wenn viele in ihrer Unterschiedlichkeit nicht nur einander anerkennen, sondern so miteinander interagieren, dass sie ein Ganzes bilden: Damals Hellas, heute Europa. Ich glaube, dass dieser hellenische oder delphische Geist nicht nur das antike Griechenland hat prosperieren lassen, sondern dass er auch dem modernen Europa guttun wird – gleichsam als Zentralgestirn, um das die Planeten der europäischen Nationen kreisen. Wo dieser Geist neuerlich zur Sprache gebracht und kultiviert wird, sehe ich eine reale Chance dafür, dass sich die Europäerinnen und Europäer für Europa begeistern.

SIMONE KRAH: Können Sie diesen „Spirit of Europe“ noch etwas genauer beschreiben?

CHRISTOPH QUARCH: Ich möchte dafür zwei Worte verwenden, die der Philosoph Platon in seinem Dialog über die Gesetze –  „Nomoi“ – gebraucht, um die eigentliche Idee, den Sinn des Politischen zur Sprache zu bringen: Frieden und Freundschaft. Darum müsse es im Politischen gehen, daran müsse jede Rechtsordnung Maß nehmen, um zu einer „Eunomia“ zu geraten: Einer guten Ordnung, die nicht nur den Geist des Gemeinwesens manifestiert, sondern das grundlegende Prinzip des Seins, wonach alles Leben sein Potenzial immer dann entfaltet, wenn es mit sich und der Welt im stimmigen Einklang  wirkt. Freundschaft nach innen und Frieden nach außen sind deshalb im Raum des Politischen das Maß aller Dinge – und gerade nicht die Akkumulation von Macht oder die Dominanz über die Anderen, wie wir heute oft fälschlich meinen.

SIMONE KRAH: Demokratie basiert dem offenen Austausch von Meinungen. Sie lebt davon, dass Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Wie schaffen wir wieder die Rückbesinnung zu einer Kultur des Diskurses?

CHRISTOPH QUARCH: Nichts ist schwieriger als das. Tatsächlich hat sich der Mensch der Neuzeit in einem Lebensgefühl eingerichtet, dass einer demokratischen Kultur des Gesprächs im Wege steht: In der Haltung des Konsumenten. Wie beim Konsum von Waren, bei dem er Kaufentscheidungen nach Maßgabe seiner privaten Interessen trifft, reduziert er seine politische Teilhabe darauf, nach Maßgabe seiner privaten Interessen Wahlentscheidungen zutreffen. So hat sich das Missverständnis breitgemacht, demokratische Freiheit sei die Freiheit der Stimmabgabe. Tatsächlich aber hat das nichts mit der Ursprungsidee der Demokratie zu tun. Die Athener definierten ihre Freiheit dadurch, dass sie jederzeit am Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess der Polis teilnehmen zu können. Deshalb spielten Wahlen bei ihnen eine untergeordnete Rolle. Die meisten wichtigen Ämter wurden durch Los vergeben. So gelang es, den politischen Raum mit einer Kultur des Diskurses zu füllen. Daran können wir uns heute orientieren. Ich bin ein großer Anhänger der Bürgerräte, die in Irland und anderen europäischen Ländern etabliert werden: Zu konkreten Themen werden per Los Bürger in ein Gremium geladen, das zwar nicht entscheidungsbefugt ist, bei den Entscheidungen der gewählten Amtsträger aber unbedingt Gehör finden muss.

SIMONE KRAH: Mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit Europas schlagen Sie einen europäischen Bürgerdienst vor. Was hat es damit auf sich?

CHRISTOPH QUARCH: Wir sprachen davon, dass es für die Zukunft Europas entscheidend sein wird, dass sich die Bürgerinnen und Bürger für den Geist Europas begeistern: Den Geist der bunten Vielfalt in stimmiger Einheit. Dieser Geist lässt sich herunterbrechen in konkrete soziale, ökologische oder zivilgesellschaftliche Werte. Werte vermögen Menschen vor allem dann zu begeistern, wenn sie praktisch gelebt werden – und das nicht nur allein, sondern gemeinsam. Deshalb schlage ich vor: Wie wäre es, wenn wir alle jungen Europäerinnen und Europäer (ebenso wie alle Einwanderer) dazu verpflichten, ein Jahr ihres Lebens in den Dienst der europäischen Werte und des europäischen Gemeinwesens zu stellen. Nach der Schule ein Jahr gemeinsam mit anderen europäischen Jugendlichen in einem anderen europäischen Land soziale oder ökologische Aufgaben zu übernehmen, so wie es hierzulande beim Zivildienst war? Der Effekt wäre großartig: Innerhalb weniger Jahre hätten wir ein europaweites Netzwerk junger Menschen, die sich dem europäischen Gemeinwesen zugehörig wissen. Wir würden unsere Werte gesellschaftlich verankern. Gleichzeitig könnte man die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa bekämpfen und die Integration von Migranten beschleunigen. Das zu finanzieren dürfte kein Hexenwerk sein. Und die jungen Leute, zu denen ich davon gesprochen haben, waren durch die Bank begeistert.

SIMONE KRAH: Abschließend mit Blick auf die MMM-Mitgliedsunternehmen eine Frage: Welche Rolle spielt Begeisterung in der Wirtschaft? 

CHRISTOPH QUARCH: Begeisterung ist in meinen Augen der wichtigste Faktor für wirtschaftlichen Erfolg. Denn was kann sich ein Unternehmen Besseres wünschen als begeisterte Mitarbeiter und begeisterte Kunden? Begeisterte Mitarbeiter haben eine starke Bindung ans Unternehmen, sie sind in hohem Maße motiviert und kreativ, bereit ihr Bestes zu geben und mitzudenken. Begeisterte Kunden bleiben einem treu, empfehlen einen weiter und begeistern andere. Nur ist es von entscheidender Bedeutung, Begeisterung nicht als einen technisch oder künstlich generierbaren Gemütszustand misszuverstehen, wie es häufig so genannte Begeisterungscoaches verkaufen. Das ist wenig nachhaltig. Echte Begeisterung hat mit dem zu tun, was sie im Namen trägt: Dem Geist. Die Kunst, Begeisterung in Unternehmen zu entfachen, ist die Kunst, Räume zu öffnen, in denen der Geist wehen und wachsen kann. Probate Mittel dafür sind eine entwickelte Dialog- und eine anspruchsvolle Unternehmenskultur.

SIMONE KRAH: Lieber Herr Quarch, danke für den kurzweiligen Austausch.

Das Interview
zum Download

Hier finden Sie die das Interview mit Christoph Quarch
aus der aktuellen Clubnews.

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